Lesezeit – „Weibliche Unsichtbarkeit: wie alles begann“

Weibliche Unsichtbarkeit

Frauen kommen in den Geschichtsbüchern oft nur als Randnotiz vor. Am ehesten als Ehefrauen, Hexen oder Geliebte. Selten aber als Gestalterinnen der Welt und der wichtigen Entwicklungen. In ihrem Buch „Weibliche Unsichtbarkeit: wie alles begann“ geht die Ur- und Frühhistorikerin Marylène Patou-Mathis auf Spurensuche. Denn Frauen haben mehr zu vielen Entwicklungen beigetragen, als gemein hin angenommen wird. Das Buch ist auf Deutsch im Hanser Literaturverlag erschienen und wurde freundlicherweise für diese Rezension zur Verfügung gestellt.

Am Klappentext beschreibt die Autorin: „Mein Ziel ist es, den Frauen ihren rechtmäßigen Platz in der menschlichen Evolution zurückzugeben“. Dafür arbeitet sie die Menschheitsgeschichte durch, angefangen bei der prähistorischen Frau bis hin zur heutigen Zeit. Durch ihren Hintergrund als Archäologin und die extensiven Quellenangaben ist man schnell von der Kompetenz von Maryléne Patou-Mathis überzeugt.

Die Autorin beschreibt die aktuelle Faktenlage und wie viele Annahmen auf Basis von subjektiver Interpretation beruhen. Viele der uns bekannten Rollenbilder wurden auf die Urgeschichte übertragen, ohne diese zu hinterfragen. Im Laufe des Buches wird klar: Einen durchgängigen Beweis, dass Frauen hauptsächlich für die „Care-Arbeit“ und Männer für das Jagen zuständig waren, gibt es nicht. Ein Aspekt, auf den leider im Buch nicht eingegangen wird: Die Wertigkeit von Care-Arbeit und die Aufwertung dieser. Dennoch ist der weibliche Blick auf die Menschheitsgeschichte beeindruckend und offenbart, wie wenig Frauen ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte erhalten haben.

Coverbild vom Hanser Literaturverlag

Religion als Vorwand für die Unterdrückung der Frau

Beim Blick auf die Urgeschichte führt die Autorin an, dass einige Skelette nach neuesten Erkenntnissen Frauen zugeordnet werden. Ursprünglich wurden diese oft aufgrund von Grabbeigaben Männern zugeordnet, da diese kriegerische Merkmale aufwiesen. Höhlenmalereien und Skulpturen wurden ebenso oft Männern zugeordnet, obwohl es keinen Beweis dafür gab. Der Autorin nach basieren diese Annahmen oft auf den zur Zeit der Entdeckung geltenden Rollenbildern und nicht auf einer fundierten archäologischen Annahme.

Marylène Patou-Mathis beschreibt über alle Epochen, wie Religion immer wieder Einfluss auf die Stellung der Frau genommen hat. Die Autorin hebt etwa den negativen Effekt der sogenannten Erbsünde hervor, der Frauen über Jahrhunderte das Leben schwer gemacht hat. Regelmäßig wurde darin ein passender Grund gesehen, Frauen zu erniedrigen. Christliche Theologen des Mittelalters bezogen sich bei der Unterdrückung der Frau auch auf antike Autoren wie Aristoteles. So wird im Buch etwa diese Aussage Aristoteles angeführt, die von den Theologen des Mittelalters verwendet wurde: „Die Männchen seien Männchen aufgrund eines besonderen Vermögens, während die Weibchen sich durch besonderes Unvermögen auszeichneten. Das Weibchen sie wie ein verstümmeltes, unfruchtbares Männchen.“

Im 16. Jahrhundert wurde gar hinterfragt, ob Frauen überhaupt Menschen seien. Die Autorin beschreibt auch diverse Hypothesen, wonach Frauen ein kleineres Gehirn hätten und dadurch weniger intelligent seien, welche im 18. und 19. Jahrhundert verbreitet waren. Viele der genannten Punkte im Buch machen klar, welch wichtige Arbeit der Feminismus geleistet hat und nach wie vor leistet.

Die Errungenschaften des Feminismus

Es gab immer wieder Phasen in der Geschichte, in der Frauen nachweislich mehr Bildung zugekommen ist und sie mehr Rechte hatten. Die Autorin hebt auch immer wieder männliche Feministen hervor, die nicht die gängigen Ansichten über Frauen teilten. Feministinnen kämpften gemeinsam mit diesen Männern für ihre Rechte.

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Frauen weder ein Wahl- noch ein Arbeitsrecht. Das sollte sich in diesem Jahrhundert ändern, als Frauen endlich als gleichberechtigte Subjekte anerkannt wurden und begonnen wurde, die Benachteiligung nach und nach aus den Gesetzbüchern zu streichen. Als Französin geht die Autorin besonders auf französische Gegebenheiten ein. Schockierend: Vergewaltigung wurde in Frankreich erst 1980 eine Straftat, Vergewaltigung in der Ehe im Jahr 1990.

``Nun ist es an der Zeit, statt der Vorherrschaft des einen über das andere Geschlecht die Komplementarität der Geschlechter anzustreben. Das Patriarchat muss durch ein neues System ersetzt werden, das es gemeinsam zu schaffen gilt.``
- Marylène Patou-Mathes -

Wenn Frauen nicht mehr unsichtbar sind

Mit diesem Buch rückt die Autorin ein Stück Geschichte gerade und stößt einen neuen Diskurs darüber an. Nach und nach werden wir in Zukunft vielleicht mit neuen Techniken noch mehr Einblicke in die Vergangenheit bekommen. Wie wichtig der tatsächliche, faktenbasierte Blick ist, zeigt, wie oft Skelette Männern zugeordnet wurden. Häufig wurde einfach angenommen, dass Frauen nicht die Fähigkeiten hätten Kriegerinnen oder Künstlerinnen zu sein.

In die „Weibliche Unsichtbarkeit: wie alles begann“ wird die Erzählung der Geschichte, wie viele sie aus dem Schulunterricht kennen, neu aufgerollt. Selbst habe ich bereits oft hinterfragt, welche Rollen denn die Frauen tatsächlich gespielt haben. „Die Geschichte schreiben die Gewinner“ trifft in diesem Fall wohl auch zu. Dadurch, dass Frauen Jahrhunderte lang unterdrückt wurden, konnten sie ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte nicht einnehmen.

Die Zeiten ändern sich zum Glück und mit Frauen wie Marylène Patou-Mathis erobert das weibliche Geschlecht langsam ihren Platz und tritt aus der Unsichtbarkeit heraus. Wir sehen tagtäglich, was Frauen Großartiges leisten. Das sollte auch in der Geschichtsschreibung endlich einen Platz finden. „Weibliche Unsichtbarkeit: wie alles begann“ ist eine Leseempfehlung für all jene, die sich für die Entwicklung der Frau im Laufe der Zeit interessieren.

Hinweis: Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Hanser Literaturverlag zur Verfügung gestellt.

Hanser Literaturverlag über die Autorin

Marylène Patou-Mathis, geboren 1955, ist eine Ur- und Frühhistorikerin, die sich vor allem mit ihren Arbeiten zur Archäologie der Neandertaler einen Namen gemacht hat. Sie ist Directrice de Recherche am CNRS und leitet als solche auch die Abteilung für Ur- und Frühgeschichte des Muséum national d’histoire naturelle. (Quelle: Hanser Literaturverlag)

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